Liebe Leserinnen, Leser!
Ein Jahr lang habe ich als Artist in Residence im Berliner Hotel Art Nouveau eine Sonntagskolumne geschrieben. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Meine Kolumne heißt SONNTAGSKIND und kommt jeden Sonntagmorgen hier zur Welt.
Herzlich, Ihr Mark Scheibe
Der portable Palast
In Berlin findet sich das vornehme Boudoir in derselben Nachbarschaft wie die verwahrloste Anarchist*innen-WG. Ein Beautysalon für Millionärinnen gleich neben der Gaststätte mit dem Namen „Klo“, in dem sich Ausscheidungsfetischisten ihr Pils unter Gleichgesinnten schmecken lassen.
Eine Modedesignerin sagte mir einmal, sie betrachte Kleidung als die kleinstmögliche Form des Zuhauses.
Die Klamotten sind in Berlin so unterschiedlich wie die Zuhauses: die vermüllte Messibude findet ihre Entsprechung in nachlässiger 24-Stundenkleidung im unprätentiösen Anstaltstil. Das Gated-Community-Penthouse hat sein bescheiden wirkendes Kostüm, das ein Vermögen kostet, als modisches Pendant. Passivhäuser riechen nach der verdächtigen Mode aus dem Manufactumkatalog.
Was man aushalten muss
Ich schreibe gerne Songs. Ich höre hin und wieder, dass meine Lieder aus einem Stimmungstief heraushelfen oder ein Lächeln hinzaubern, wo zuvor ein Grollen war. Das leitet mich und gibt mir das Gefühl, einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen.Früher war das anders: da habe ich gern Lieder gesungen, die polarisierten und immer auch ein bisschen Ärger machten. Ein in dieser Hinsicht erfolgreicher Song war der „Unterschichten-Bossanova“, in dem ich eine bildungsferne Horrorfamilie karikiert habe.
Der pornographische Hebel
Ich liebe Logik! Wie wundervoll ist Wissenschaft! Die mechanische Wucht der Kausalität, wenn eine Handlung Konsequenzen hat. Die Verlässlichkeit einer Hebelanwendung. Von beeindruckender Folgerichtigkeit ist der mediale Lichtkegel, der gerade auf das bescheuerte Lied „Layla“ fällt. Was für eine bemerkenswerte Öffentlichkeit! Da kann man als Songschreiber nur neidisch werden. Als empörte Gesellschaft verhelfen wir gerade den beiden Partypäpsten Dj Robin und Schürze zu astronomischen Einnahmen. Mit einer Ohrfeigenmelodie aus den dunkelsten Kellern der Musikerfindung schaffen sie den Gegenwert einer sonnendurchfluteten Dachgeschosswohnung in Berlin-Mitte. Vorderste Chartsplatzierung dank großer Aufregung! Ich bitte um Entschuldigung, dass ich jetzt auch noch ins Horn stoße, aber ich muss. Es ist einfach zu schön.
Annabella zieht um
Annabella (Name v. d. Red. geändert) streicht ihre Wohnung in Neukölln. Als Einzelkind weiß sie zu schätzen, wenn man sich um sie kümmert. Der Bezirk Neukölln versprüht so gar keine Fürsorglichkeit. Keine Kronleuchter in den Restaurants, keine Austernbars, fast nie ein ordentlicher Champagner auf den Getränkekarten der lokalen Gastronomie. Sie zieht in ihren Wunschbezirk Charlottenburg.
Der Horror mit dem Glückskeks
Auf der Nordseeinsel Spiekeroog grüßt man mit „Moin“. Hier lebt es, das Klischee des „Friesisch-Herben“, mit dem die Jever-Brauerei seit Ewigkeiten wirbt. Wortkarge Lebensmeister, die dir die Wahrheit ungeschnörkelt ins Gesicht rufen, während sie, von einer Orkanböe unbeeindruckt, eine Krabbe pulen.
Denkerpose im offenen Hemd
Morgen probt ein Orchester Filmmusik, die ich komponiert habe. Komponieren geht so: Man zieht sich an, als ginge man zu einem großen Fest, zum Beispiel dem Geburtstag der Queen. Dabei überwindet man die Angst, „overdressed“ zu sein. Man setzt sich nun bequem auf einen großzügigen Stuhl. Es schadet nicht, wenn dieser einem Thron ähnelt. Nun rutscht man mit dem Gesäß Richtung Stuhlkante, sodass der Körper unter einer beeindruckenden Spannung steht. Nun legt man die linke Hand angewinkelt auf den linken Oberschenkel, platziert den rechten Ellenbogen eine Handbreit hinter dem rechten Knie, ballt eine Faust, beugt diese und stützt sein Haupt mit ihr.
Zufälliger Untergang
Lachmöwen kreisen über meinem Kaffeetisch, die White Cliffs of Dover reflektieren ein magisches Licht auf den flaschengrünen Atlantik. Heute morgen briet ich in britischen 32 Grad Celsius, ein paar Stunden später biss mir ein eisiger Regenwind durch das zuvor nassgeschwitzte Smokinghemd. „Weather is a third to place and time“– dieser Satz des britischen Poeten Ian Hamilton Finlay prangt in ozeanblauen Lettern auf dem historischen Leuchtturm hier in Folkestone. Das menschliche Leben findet in Raum und Zeit statt – das Wetter erst sorgt für Drama.
Coaching-Tourette
Auf meinen Prokrastinationswegen (Endspurt einer großen orchestralen Filmmusik, ich kann nicht loslassen, ich werde einfach nicht fertig) begegnet mir in der ARD die neue Serie „How to Dad“: ein Quartett mitteljunger Väter wartet im Café eines Tanzstudios auf die Vorschultöchter. Herrliches Rumgemacker unter vier Vätern mit unterschiedlicher Bewaffnung: der Startup-CEO demonstriert Wohlstand und mentale Überlegenheit. Der woke Hausmann vergibt Haltungsnoten und hat sämtliche Sensibilitäten im Blick, vor allem seine eigenen. Der breitbeinig sitzende Unterweltler wirft die anderen immer wieder auf den Boden der Tatsachen und findet im verbalen Nebel der Hochsensiblen und Abgehobenen zu seinem Feingefühl. Der ewig junge Influencer wird von niemandem ernst genommen, zeigt aber ein gutes Herz bei zweistelligem IQ.
Allein mit der Musik
Vor genau einem Jahr habe ich mich für ein Leben im Hotel entschieden. Ich hab mich zuhause einfach nicht mehr zuhause gefühlt. Seitdem wohne ich in Berlin-Charlottenburg in einer Suite mit Badewanne und Klavier im Hotel Art Nouveau. Ich bin viel unterwegs, spiele hier und da Konzerte, darf manchmal im Fernsehen auftreten, unterhalte geschlossene Gesellschaften auf Galas oder ziehe mich zum Komponieren in verlassene Ferienhäuser zurück. Einmal im Monat treffe ich meine Therapeutin. Sie fragt, womit ich gerade beschäftigt bin.
S-Bahnfahren in Berlin
Vor der viralen Wartezeit auf die Wiederkehr der sogenannten Normalität nutzte ich täglich die Berliner S- und U-Bahnen. Das halte ich heute kaum noch aus. Niemand grüßt, wenn man eintritt. Das war früher selten anders, aber die Coronamonate haben mich etwas needy gemacht, was das Wahrgenommenwerden angeht. Statt wenigstens einen kleinen Willkommensapplaus zu spendieren, starren also alle nur auf ihre Handys. Ich muss an meinen Freund Edward denken, er hat in Oxford studiert. Spartenübergreifend wurden dort auch Umgangsformen unterrichtet, was für ein hervorragender Ansatz!