Denkerpose im offenen Hemd
Morgen probt ein Orchester Filmmusik, die ich komponiert habe. Komponieren geht so: Man zieht sich an, als ginge man zu einem großen Fest, zum Beispiel dem Geburtstag der Queen. Dabei überwindet man die Angst, „overdressed“ zu sein. Man setzt sich nun bequem auf einen großzügigen Stuhl. Es schadet nicht, wenn dieser einem Thron ähnelt. Nun rutscht man mit dem Gesäß Richtung Stuhlkante, sodass der Körper unter einer beeindruckenden Spannung steht. Nun legt man die linke Hand angewinkelt auf den linken Oberschenkel, platziert den rechten Ellenbogen eine Handbreit hinter dem rechten Knie, ballt eine Faust, beugt diese und stützt sein Haupt mit ihr.
Zufälliger Untergang
Lachmöwen kreisen über meinem Kaffeetisch, die White Cliffs of Dover reflektieren ein magisches Licht auf den flaschengrünen Atlantik. Heute morgen briet ich in britischen 32 Grad Celsius, ein paar Stunden später biss mir ein eisiger Regenwind durch das zuvor nassgeschwitzte Smokinghemd. „Weather is a third to place and time“– dieser Satz des britischen Poeten Ian Hamilton Finlay prangt in ozeanblauen Lettern auf dem historischen Leuchtturm hier in Folkestone. Das menschliche Leben findet in Raum und Zeit statt – das Wetter erst sorgt für Drama.
Coaching-Tourette
Auf meinen Prokrastinationswegen (Endspurt einer großen orchestralen Filmmusik, ich kann nicht loslassen, ich werde einfach nicht fertig) begegnet mir in der ARD die neue Serie „How to Dad“: ein Quartett mitteljunger Väter wartet im Café eines Tanzstudios auf die Vorschultöchter. Herrliches Rumgemacker unter vier Vätern mit unterschiedlicher Bewaffnung: der Startup-CEO demonstriert Wohlstand und mentale Überlegenheit. Der woke Hausmann vergibt Haltungsnoten und hat sämtliche Sensibilitäten im Blick, vor allem seine eigenen. Der breitbeinig sitzende Unterweltler wirft die anderen immer wieder auf den Boden der Tatsachen und findet im verbalen Nebel der Hochsensiblen und Abgehobenen zu seinem Feingefühl. Der ewig junge Influencer wird von niemandem ernst genommen, zeigt aber ein gutes Herz bei zweistelligem IQ.
Allein mit der Musik
Vor genau einem Jahr habe ich mich für ein Leben im Hotel entschieden. Ich hab mich zuhause einfach nicht mehr zuhause gefühlt. Seitdem wohne ich in Berlin-Charlottenburg in einer Suite mit Badewanne und Klavier im Hotel Art Nouveau. Ich bin viel unterwegs, spiele hier und da Konzerte, darf manchmal im Fernsehen auftreten, unterhalte geschlossene Gesellschaften auf Galas oder ziehe mich zum Komponieren in verlassene Ferienhäuser zurück. Einmal im Monat treffe ich meine Therapeutin. Sie fragt, womit ich gerade beschäftigt bin.
S-Bahnfahren in Berlin
Vor der viralen Wartezeit auf die Wiederkehr der sogenannten Normalität nutzte ich täglich die Berliner S- und U-Bahnen. Das halte ich heute kaum noch aus. Niemand grüßt, wenn man eintritt. Das war früher selten anders, aber die Coronamonate haben mich etwas needy gemacht, was das Wahrgenommenwerden angeht. Statt wenigstens einen kleinen Willkommensapplaus zu spendieren, starren also alle nur auf ihre Handys. Ich muss an meinen Freund Edward denken, er hat in Oxford studiert. Spartenübergreifend wurden dort auch Umgangsformen unterrichtet, was für ein hervorragender Ansatz!
Pension der bebenden Betten
Eigentlich wollte ich eine Kolumne über Faulheit schreiben. Ich liebte schon als Kind, gepflegt abzuhängen. Ich erinnere mich an einen sogenannten Buß- und Bettag im November, draußen war es dunkel, schulfrei dank Jesus. Ich war 7 oder 8 Jahre alt, hatte einen Haufen Asterixhefte und eine große Schüssel Erdnussflips. Meine Mama hat mir aus Bettdecken eine Höhle gebaut, es war schön warm und ich hatte beste Laune beim ziellosen Verstreichenlassen dieses finsteren Tages. Ich ahnte schon, dass mir die religiöse Bedeutung des Buß- und Bettages nicht schmeckt: ohne etwas verbrochen zu haben, sich seiner Sünden schämen und Reue empfinden zu müssen ist kein gutes Programm für die meisten Kinder. In diesem Jahr damals fiel der kirchlich verordnete Feiertag des schlechten Gewissens mit dem Geburtstag meines Großvaters zusammen.
LEBEN IM HOTEL – die wöchentliche Kolumne
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“
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Die Finsternis des Fremdgefühls
Im Wiener Caffeehaus in Berlin-Grunewald. Neben mir sitzen zwei gebräunte Herren, etwa 60-jährig. Sie würden auf einer Trigema-Betriebsfeier mit Wolfgang Grupp nicht fremd wirken. Einem steht in dunkelblauer Stickung „Boss“ auf dem hellblauen Polohemd geschrieben. Das drückt nicht nur eine klare modische Entscheidungsfantasie aus, sondern ist vermutlich auch die textile Niederschrift des eigenen Statusempfindens.
Über Niveau / mein erster Witz
Meine feinfühlige Promoterin weiß, dass ich mich in einer Linie mit Gustav Mahler, Richard Wagner und Frank Sinatra sehe und mir in Gesellschaft der Geissens, Andy Borg und dem Wendler künstlerisch ein bisschen fremd vorkomme. Mein Verhältnis zu jeder Art von Presse ist aber vergleichbar mit einem seit Tagen in der Wüste Umherirrenden zum Wasser.
Gebrandmakelt
Die Esoteriker hatten recht: alles ist Energie, Energie ist alles. Schlechte Zeiten für Verschwender. Vor ein paar Jahren dichtete ich in einem Song: „Kluge Leute sagen, es sei die Qualität, nicht die Quantität, um die es wirklich geht. Was soll dann einer wie ich machen, der nun mal auf beides steht?“ – inzwischen besitze ich ein Messgerät, das mir anzeigt, wieviele Kilowattstunden durch meine Stromleitung ballern, wenn ich aus reiner Bequemlichkeit Tag und Nacht den Computer anlasse, mit all den Festplatten und komischen Geräten zum Musikmachen.
Dopamin to go
Bei Heiner Müller und Peter Handke heißt es, die Werke seien klüger als ihre Autoren. Ich bin nicht intelligent genug, um sicher sein zu können, dass das als Kompliment gemeint ist, aber ich vermute, es gilt auch für mich: denn mit dem Song „Musik ist Liebe“ habe ich unwissend meine ganze Haltung zur Musik in einen schmissigen Slogan gegossen. Und das in einer Zeit, in der alles ironisch sein musste. Mitte der 90er komponierte ich die Schlagerparodie, mit der ich die Betroffenheit überexpressiver Schmalzbarden aufs Korn nehmen wollte. Was nur halbwahr ist: in Wirklichkeit wollte ich selbst ein überexpressiver Schmalzbarde sein.